DU UND ICH – Niccolò Ammaniti

Lorenzo Cuni ist ein Außenseiter. Der Vierzehnjährige lebt mit seinen wohlhabenden Eltern in einem Palazzo in Rom und scheint sehr auf seine Mutter fixiert. Seine Introvertiertheit hat er perfektioniert, um nicht aufzufallen, um seine Ruhe zu haben. Um seine Eltern zufriedenzustellen, erfindet er lustige Geschichte, die er angeblich mit seinen Mitschülern erlebt hat.

»Doch je mehr ich diese Farce inszenierte, desto stärker wurde mein Gefühl, anders zu sein. Der Graben, der mich von den anderen trennte, wurde tiefer. Allein war ich glücklich, bei den anderen musste ich Theater spielen.« S. 43

Natürlich machen sich seine Eltern Sorgen um sein Verhalten, schicken ihn zu einem Psychologen, der ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Um seine Mutter stolz zu machen, ihr zu beweisen, dass er beliebt ist, erfindet er eine Einladung zu einem Skiurlaub mit seinen angeblichen Schulfreunden. Doch er schleicht sich zurück nach Hause und verbringt die Tage im Keller des Palazzos, wo kurz darauf seine neun Jahre ältere, drogensüchtige Halbschwester auftaucht, einen Platz zum Schlafen sucht und seine Pläne durcheinanderzubringen droht. Diese Begegnung wird das Leben beider verändern.

Mehr möchte ich vom Inhalt gar nicht verraten, denn es ist eher eine kurze Novelle über einen kurzen, aber entscheidenden Moment in Lorenzos Leben. Auf nur 148 Seiten entwickelt Ammaniti ein nachvollziehbares Gedankenkonstrukt eines heranwachsenden Teenies. Um als Außenseiter nicht zum Opfer zu werden, imitiert er das Verhalten seiner Mitschüler, was man in der Tierwelt als Bates’sche Mimikry bezeichnet. Eine äußerst interessante Herangehensweise, die Ammaniti wählt, um die Verlorenheit, die Suche nach einem eigenen Platz in der Welt zu verdeutlichen. Und dann kommt dieses eine Ereignis, das ihn plötzlich zwingt, Verantwortung zu übernehmen.

Ammaniti ist es gelungen, ein berührendes Kammerstück zu gestalten, die sicher noch einige Zeit nachhallen wird. Schnörkellos, unterhaltsam und authentisch lässt er uns in der Ich-Perspektive die Wahrnehmungen des Protagonisten fühlen. Wir erleben die ganze Bandbreite von wirren Emotionen eines Pubertierenden, die einem durchaus bekannt vorkommen. Wer wie ich Ammaniti bereits von Intimleben kennt, weiß, dass er auch eine gehörige Portion Gesellschaftskritik zu verpacken weiß. Hier ist es die ausgestoßene, drogensüchtige Tochter, die man lieber von dem makellosen bürgerlichen Milieu fernhält, über die man im Flüsterton hinter verschlossenen Schlafzimmertüren spricht. Eine heile Welt, die Lorenzo wie einen Kokon umschließt, die nun schlagartig durch die Begegnung aufreißt.
Spätestens jetzt hat mich der Autor vollends überzeugt und ich werde mich auf seine anderen Bücher mit Freude stürzen.

Übersetzt wurde das Buch von Ulrich Hartmann und gefällt mir sprachlich um einiges besser als Intimleben.

Es gibt zwei Dinge, die mich echt nerven, aber nichts mit der Geschichte zu tun haben. Hat derjenige, der bei Piper den Klappentext geschrieben hat, auch das Buch gelesen? Warum schreibt der/die, dass die Schwester sieben, statt neun Jahre älter ist? Dann heißt es weiterhin, sie sei seine Halbschwester, richtig, aber die Übersetzung nennt sie im Buch Stiefschwester, was nicht richtig ist, da beide den biologisch gleichen Vater haben. Fällt denn sowas im Verlag niemanden auf?

Klappentext

Ausgerechnet während der vierzehnjährige Lorenzo sich im Keller vor der Welt versteckt, lernt er seine Schwester Olivia kennen. Sieben Jahre älter, schön, drogensüchtig. Eine Begegnung, die ihn befreien wird. Aber kann auch er ihr helfen? Lorenzo weiß selbst nicht, warum er behauptet hat, dass er mit einer Clique in die Skiferien fährt. Nun kann er nicht mehr zurück, seine Mutter freut sich viel zu sehr, dass er endlich Freunde gefunden hat. Also besorgt er sich einen Fernseher, Bücher, Computerspiele, ein paar Vorräte und Selbstbräunungslotion und versteckt sich am ersten Ferientag im Keller des Hauses. Alles läuft nach Plan, bis seine Halbschwester Olivia in seinem Verschlag auftaucht, auf der Suche nach einem Platz zum Schlafen und nach ein bisschen Bargeld für den nächsten Schuss … Anrührend, komisch und tragisch zugleich – eine kurze Geschichte vom Erwachsenwerden.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-492-05504-8
Verlag: Piper Verlag
Erscheinungsjahr: 12. März 2012
Übersetzung: Ulrich Hartmann
Seiten: 150, Hardcover

Über den Autor

Niccoló Ammaniti, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Der wohl bekannteste seiner bisher acht Romane, der Weltbestseller Ich habe keine Angst gewann den Premio Viareggio, sein Roman Wie es Gott gefällt den Premio Strega. All seine Bücher wurden von international herausragenden Regisseuren für das Kino verfilmt, darunter Gabriele Salvatores und Bernardo Bertolucci. Auch Ammaniti selbst ist als Regisseur tätig. Er machte Furore mit der internationalen TV-Serie Ein Wunder, für die er auch das Drehbuch schrieb. Auch seinen dystopischen Roman Anna verfilmte er als Mehrteiler fürs Fernsehen. Nach längerer Schreibpause erscheint nun endlich sein neuer Roman Intimleben. Niccolò Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau in Rom.

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Über ein.lesewesen 273 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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