SOLANGE WIR SCHWIMMEN – Julie Otsuka

Werbung, ich bedanke mich beim Mare Verlag für das Rezensionsexemplar.

»Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert oder daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. Ihre Armzüge sind lang und fließend, ihr Beinschlag ist kräftig, ihr Geist klar.« S.9

Es dauert eine Weile, bis deutlich wird, dass Alice in den Fokus der Geschichte rückt, denn zunächst erleben wir aus der ungewöhnlichen Wir-Perspektive das Treiben in einem unterirdischen Schwimmbad. Alice ist Teil dieser Menschen, die ihre Regeln befolgen, ihre festen Rituale haben, sich an einen Rückzugsort vom hektischen Alltagsleben »da oben« flüchten. So unterschiedlich sie auch sind, hier sind sie eine verschworene Gemeinschaft. Otsukas Satzrhythmus erinnert tatsächlich an gleichmäßige Schwimmzüge. Einzelne Personen tauchen immer wieder aus der Gemeinschaft auf, als würden sie kurz Luft holen.

Doch dann erscheint ein Riss unter Bahn 4, haarfein zunächst, doch dieser Riss beschäftigt die Seitenlagenschwimmer, Aquajogger, Morgenschwimmer und Bahnenrowdys auf alle erdenkliche Weisen. Der Riss geht nicht nur durch die Fliesen, auch durch die Gemeinschaft, durch Alice’s Kopf und durch die Geschichte. Der heitere Schreibstil reißt ab, und wir tauchen in die Welt der Demenz ab, in das Vergessen, das Sich-nicht-mehr-erinnern-können. Hier hat mich Otsuka, fast wie in einem Strudel, in die Tiefe gezogen. Von »na ja, so schlimm wird es schon nicht sein« bis »das wars, wir müssen schließen«. Denn der Verlauf der Demenz ist unaufhaltbar. Trotz der bedrohlichen Situation bleibt Otsukas Sprache zärtlich und mitfühlend.

Das ändert sich, als Alice ins Belavista, eine Langzeit-Pflegeeinrichtung, »umziehen« muss. Ab hier gibt es kein Zurück mehr. Keine Selbstbestimmung, nur noch Kontrolle. Es schwingt auch eine gehörige Portion Kritik am Pflegesystem mit.
Gleichzeitig apelliert die Stimme an das Leben. Es findet jetzt in diesem Augenblick statt. Es gibt ihn nicht, diesen »besseren Moment«, für den man Dinge aufspart, denn am Ende bleibt nur die Reue, etwas nicht getan zu haben.

»… Sie hätten diese teuren Pumps tragen sollen, die Sie ganz hinten in Ihrem Schrank für einen besonderen Anlass aufbewahrt haben (der welcher wäre?). Sie hätten leben sollen (aber was haben Sie stattdessen gemacht? Sie sind auf Nummer sicher gegangen und in Ihrer Bahn geblieben).« S.91

Noch eindringlicher wird der Tenor, wenn Otsuka in die Du-Perspektive wechselt. Du, das ist die Tochter, deren innere Stimme ihr Vorwürfe macht. Denn nun lässt sich nichts mehr nachholen, was sie über die Jahre versäumt hat zu tun. Wie viel schulden wir eigentlich unseren Eltern?

»Du hast deine Mutter in all den Jahren, in denen du weg warst, kein einziges Mal zu dir eingeladen. Du hast ihr nie geschrieben … Du bist nie mit ihr nach Paris oder Venedig oder Rom gefahren, an all die Orte, von denen sie immer geträumt hat …« S.128

Fazit. Ich bin sicher, dass dieses Buch nicht jedermanns Geschmack ist, schon aufgrund der fehlenden Handlung. Für mich war es ein absolutes Highlight. Otsuka hat mich mit ihrer meisterhaften Umsetzung, ihrem gekonnten Spiel mit außergewöhnlichen Perspektiven, mit ihren schonungslosen Brüchen, ihrer Direktheit schwer beeindruckt – literarisch ein absolutes Meisterwerk, das mich emotional schonungslos in die Tiefe gerissen hat. Und dass sie es bei all der Tragik geschafft hat, Humor wie kleine lichte Momente aufblitzen zu lassen, ohne die das Buch wohl kaum zu verkraften wäre.
Mein ganzer Respekt gebührt auch Katja Scholtz, die diese rhythmische, klare Satzstruktur hervorragend ins Deutsche übersetzt hat.

Klappentext

In ihrem Schwimmbad fühlen sie sich zu Hause, hier können sie bei ihren täglichen Bahnen ihre Sorgen hinter sich lassen: Designer, Nonnen, Hundesitter, Veganerinnen, Polizisten, Professorinnen, Schauspieler… Bis eines Tages ein Riss erscheint – am Beckengrund, aber auch im Gedächtnis von Alice, die genau wie die anderen hier im Schwimmen stets Trost und Halt gefunden hat. Während sie bald nur noch in bruchstückhaften Erinnerungen schwimmt, versucht ihre Tochter, sich in ihre Mutter hineinzuversetzen, ihr Verhältnis zueinander neu auszuloten und Alice’ Leben Sinn und Zusammenhang zurückzugeben.
Aus so unterschiedlichen wie verblüffenden Perspektiven und mit unvergleichlichem Gespür für das Komische im Tragischen schreibt Julie Otsuka über Liebe und Verlust, Trauer und Erinnerung, Mütter und Töchter und die große Frage, was wir unseren Eltern schuldig sind.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-86648-691-1
Verlag: Mare Verlag
Erscheinungsjahr: 8. August 2023
Übersetzung: Katja Scholtz
Seiten: 160, Hardcover

Über die Autorin

Julie Otsuka, geboren 1962 in Kalifornien, lebt heute in New York City und ist ehemalige Guggenheim-Stipendiatin. 2012 erschien im mareverlag ihr internationaler Bestseller Wovon wir träumten, der von Publikum und Presse hymnisch gefeiert wurde und für den die Autorin u.a. den PEN / Faulkner Award, den Prix Femina sowie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Katja Scholtz den Albatros-Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung erhielt.

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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