Die Ruchlosen von Philippe Djian

Werbung. Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das kostenfreie Rezensionsexemplar.

»Aber er wollte, dass sie ihre Hände wegnahm, dass sie aufhörte, ihn anzufassen, dass sie beiseite ging, verschwand, er versuchte, ihr zu sagen, dass sie abhauen, nach Hause gehen sollte, aber sein Mund war voll Blut, und sie weigerte sich, ihn loszulassen.«
So geht der Roman los. Ein atemberaubendes Tempo, das sich noch steigert und man ist direkt mitten in der Geschichte. Gewaltig wie ein Orkan kommt die daher und reißt einen mit.

Diana und ihr 20 Jahre jüngerer Schwager Marc leben in einem Ort an der französischen Atlantikküste. Verbunden sind sie durch Patrick, Dianas Mann, der bei einem Attentat getötet wurde. Marc kümmert sich liebevoll um Diana, die eine Affäre mit Serge, dem Sohn des Bürgermeisters hat. Und da ist da noch Joel, Kleinkrimineller und Dianas Bruder, der mit Patrick eng befreundet war und für den Marc wie ein kleiner Bruder ist. Alle sind über Patrick, der allgegenwärtig zu sein scheint, eng miteinander verbunden. Eines Morgens findet Marc einige Päckchen Koks, die am Strand angespült wurden und die drei (noch lebenden) Männer versuchen, den Stoff zu verticken, was auch Spannungen zwischen Diana und Marc schafft.

Das Erzähltempo ist schnell, manchmal rasend schnell, es fällt schwer, das Buch aus der Hand zu legen, weil man atemlos weiterlesen möchte. Und das liegt nicht nur daran, dass uns Djian keine Pause gönnt, da der Roman nicht in Kapitel unterteilt ist, sogar Absätze sind rar. Djian kommt mit einem Mindestmaß an Satzzeichen aus. Im ganzen Buch gibt es nur Punkte und Kommas – ein paar Gedankenstriche sind vorhanden. Selbst die Dialoge haben keine Anführungszeichen. Auf den ersten Zeilen irritierte das kurz, doch tatsächlich sind die überflüssig. Djian schreibt so klar und präzise, dass der Text ohne besondere Markierungen auskommt.

Man schaut den Figuren bei allem, was sie tun über die Schulter, ist live dabei, ihre Gespräche, Gedanken und Handlungen schaffen eine unglaubliche Tiefe und Lebendigkeit. Sie agieren am Abgrund ihrer Psyche, scheinen fast wahnsinnig. Und so entsteht das bedrohliche Bild einer aufziehenden Katastrophe. Manchmal bewegen sich die Figuren am Rande des Erträglichen, doch es ist immer nachvollziehbar und schlüssig.
Die Story hat den Plot für einen Thriller und doch ist er nebensächlich. Bei Djian geht es um Menschen, um Beziehungen. Die Akteure kämpfen mit ihren Dämonen, sind im Inneren zerbrechlich und auf der Suche nach Glück. Mit Alkohol, Drogen und Sex betäuben sie ihren Schmerz und ihre Aggressionen, jeder auf seine Art, mehr oder weniger erfolgreich. Stück für Stück entgleitet allen, jedem auf seine eigene Weise, das Leben. Bedrohlich laufen die Handlungsstränge auf ein vernichtendes Ende zu. Philippe Djian überlässt dabei vieles der Fantasie des Lesers, aber alles Wichtige wird gesagt. Kein Wort zu viel, so kommt diese Geschichte auch mit nur 202 Seiten aus – aber eben auch kein einziges Wort zu wenig.

Mir hat das Buch einen übermüdeten Tag mit reichlich Kopfschmerz eingebracht, da ich wider jegliche Vernunft nicht zu lesen aufhören konnte. Anstatt beim Zubettgehen ein paar Seiten zu lesen, verschlang ich den ganzen Roman in einer Nacht. Den Tag überstand ich nicht ohne Aspirin. Passend dazu mein Lieblingszitat (Serge zu Marc):
„Das ist, wie wenn man Aspirin mit auf eine Reise nimmt, erklärte er und hielt ihm die Waffe hin, nur für den Fall dass.“

Das ist französische Gegenwartsliteratur, die spannend wie ein packender Thriller daherkommt, ein Meisterwerk Roman Noir über verzweifelte Menschen, deren Leben total aus der Bahn gerät und die sich in absoluter Sinnlosigkeit verlieren. Und das Ende ist ganz wie erwartet aber dennoch so völlig anders. Auf den letzten drei Seiten kommt eine ganz andere Stimmung auf. Was passiert? Das kann ich euch nicht sagen, ich will ja nicht spoilern.
Übersetzt wurde der Roman von Norma Cassau, die sicher einen nicht unerheblichen Anteil daran hat, dass er so gut ist.

Ich halte »Die Ruchlosen« für Djians bestes Werk und kann es jedem empfehlen, der Djian mag.

Klappentext:

Marc lebt mit seiner Schwägerin Diana in einer Stadt am Meer und kümmert sich seit dem Tod ihres Mannes leicht manisch, aber liebenswert um sie. Eines Tages findet er am Strand drei prallvolle Päckchen mit Koks. Er möchte die Ware für gutes Geld verkaufen, doch bald läuft alles aus dem Ruder. Freundschaften zerschellen, Liebe flirtet mit Verbrechen – und mitten aus dem Chaos erwachsen überraschende neue Bindungen und Gefühle.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-07174-0
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: 25.08.2021
Seiten: 208, Hardcover

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Über franzosenleser 76 Artikel
"Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: Nichts tun, nichts sagen, nichts sein" Aristoteles

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