DER INSELMANN – Dirk Gieselmann

Werbung, da Rezensionsexemplar. Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch.

»Es ist so kalt, dass selbst der Wind fror.« S. 7

Ich mag es, wenn erste Sätze ein Versprechen abgeben, das sie bis zur letzten Seite einhalten, sich übertreffen, sich hinterfragen, mich einhüllen, mich leiten, mich entschleunigen und berühren.

Hans ist ein stiller Junge, frierend und geduldig harrt er am Ufer aus, wartet mit seinen Eltern auf den Kahn, der sie auf eine einsame Insel bringen soll. Mit ihren wenigen Habseligkeiten wollen sie weg aus der Stadt. Eine Art Flucht vor dem Leben, den Menschen und der Wirklichkeit, eine Flucht nach innen. Und Hans weiß, dass nun alles besser wird. Das neue Leben ist hart und entbehrungsreich, doch Hans ist glücklich. Er fühlt sich als König der Insel, über die er oft stundenlang streift. Zapfen, Scherben und Blätter sind seine Schätze. Hier kann er sein, der er ist.
Doch das unbekümmerte Leben endet, als die Schulbehörde ihn von der Insel holen lässt. Kurz darauf landet er auf der »Burg«, einem Heim für schwererziehbare Kinder.

Von seinem Direktor heißt es:
»Er sprach mit hoher, rauer Stimme, es klang wie ein Draht, der gegen einen Balken schnarrt. Seine Augen waren ausgeschnitten aus einer Zeitung voller schlechter Nachrichten.« S. 111

Was ihn durchhalten lässt, ist sein Wunsch, auf seine Insel zurückkehren zu können. Doch seine Odyssee hat gerade erst begonnen.

Was für ein Buch!
Reduziert auf das Wesentliche und doch emotional so tiefgehend und aufwühlend. Hans’ Geschichte ist von Beginn an drückend, sagt er doch, dass er seine Eltern mehr liebe als sie ihn. Als Leser möchte man ihn in den Arm nehmen, wenn seine Mitschüler ihn mobben, seine Eltern in Sprachlosigkeit versinken.

Hans zeigt immer wieder Stärke, Empathie und trotzt schon fast dem Leben, das es nicht immer gut mit ihm meint. Aber nicht nur Hans’ Schicksal hat mich berührt, sondern auch Gieselmanns Worte – poetisch, bildhaft, leise, zärtlich und voller Melancholie, bisweilen philosophisch. Immer wieder habe ich Pausen eingelegt, um einen Satz oder einen Abschnitt ein zweites Mal zu lesen, oder ein drittes, ein viertes Mal. Auf der letzten Seite hatte ich das Bedürfnis, das Buch nochmals von vorn zu beginnen.

»Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, in ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?« S. 23

Zeitlich wird das Buch Ende der 60er Jahre zugeordnet, örtlich aber nur »in einem entlegenen Ort Deutschlands«. Darüber lässt sich insofern spekulieren, dass das Individuum und die Freiheit des Einzelnen sich einer Gesellschaftskonformität unterzuordnen haben. Auf jeden Fall schafft die intensive Atmosphäre viel Raum für eigene Gedanken. Mit seinem Debüt hat Gieselmann einen literarischen Fußabdruck hinterlassen.

Am Ende blieb ein Moment der Stille, der Nachdenklichkeit. Haben wir nicht alle manchmal den Wunsch nach Einsamkeit, nach einer Flucht aus der Realität? Es ist jetzt schon mein Highlight des Monats.

Klappentext

Eine vergessene Insel, ihr stiller König und die Sehnsucht nach einem Leben abseits der Welt. »Der Inselmann« ist das ebenso berührende wie sprachmächtige Porträt eines Außenseiters und eine Hymne auf den Eigensinn.

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?

Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten. »Der Inselmann« ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-462-00025-2
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr: 9. Februar 2023
Seiten: 176, Hardcover

Über den Autor

Dirk Gieselmann, geboren 1978, studierte Germanistik und Philosophie. Als Journalist schreibt er für verschiedene Zeitschriften und Magazine. Er wurde für seine Texte mit dem Henri-Nannen- und dem deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm, in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Armin Smailovic, der »Atlas der Angst«. Das gleichnamige Theaterstück wurde im Thalia Theater Hamburg aufgeführt. Gieselmann lebt mit seiner Familie in Berlin.

Pressestimmen

»Gieselmann (schreibt) so wundersam eigenartig, dass man staunt, wie aus einer Vignettentechnik ein ganzes großes Bild wird. Seine Sprache ist wie der Torf, den Hans sticht: schwer und feucht, leicht und trocken, dann Rauch, dann eine Erinnerung.« Christiane Pfau, Müncher Feuiletton, Februar 23

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Über ein.lesewesen 271 Artikel
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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