IN KÜSTENNÄHE – Joachim B. Schmidt

»Es gab nichts Dümmeres, als in einem so kleinen Ort wie Ísafjörður mit Dope zu dealen.« Das weiß Lárus, doch es schert ihn nicht, weil es sonst ein anderer täte, und so sackt er lieber selbst die dicke Kohle ein, doch das Zeug rührt er nicht an, ballert sich lieber regelmäßig die Birne mit Alkohol weg. Als Tarnung hat er sich einen Job im Altenheim zugelegt, wo er als Hilfskraft des Hausmeisters Helmut jobbt. Eine defekte Heizung in Zimmer 37-A soll sein noch junges Leben ordentlich auf den Kopf stellen. Der Bewohner des Zimmers ist kein geringerer als Grímur, von allen genannt »der Schlächter«. Gerüchte ranken sich um den alten Mann, er habe vor langer Zeit eine Frau getötet. Für Lárus ist er kein Unbekannter, hat er ihm doch als kleiner Bub mit seinen Freunden einen bösen Streich gespielt, doch diese Begegnung ging damals nicht gut aus. Heute liegt Grímur nur noch schweigend in seinem Bett und wartet auf seinen Tod.
Die pure Neugier treibt Lárus dazu, dem Alten sein Geheimnis zu entlocken.

Schmidt beehrt uns wieder mit einer ganzen Menge interessanter Figuren, die der rauen Alltäglichkeit Islands entnommen sind. Da ist Helmut, von dem es heißt, er sei aus Ostberlin, nichts Genaues weiß man nicht, aber man munkelt, er sei früher bei der Stasi gewesen. Da ist Soffía, mit der Lárus ein kurzes Techtelmechtel hatte, die aber scheinbar andere Pläne hat. Und da ist Grímur, der Einzelgänger, der gesellschaftlich Geächtete und seine Halbschwester Drífa, die damals auf dem gemeinsamen Boot verschwand.

»In anderen Ländern fallen sie im Krieg, bei uns fallen sie ins Meer.« S.132

Schmidts Debüt wurde vom Diogenesverlag 2022 neu aufgelegt und schon hier widmet er sich den Außenseitern, den schwarzen Schafen in der Gesellschaft. Er entführt uns in die raue Alltagswelt in den Westfjorden, das nicht viel mit der Postkartenidylle zu tun hat, die wir vielleicht kennen.

Es geht nicht nur um Ausgrenzung und die Folgen von Gerüchten, sondern auch um Freundschaft und Reue. Einmal mehr beweist Schmidt seine große Beobachtungsgabe, indem er seine Figuren mit all seinen Ecken und Kanten lebensnah zeichnet, dass sie mir wieder ans Herz gewachsen sind. Gewohnt warmherzig und mit feinem Humor zieht er mich ganz nah an die Schicksale der beiden so ungleichen Männer, die zu Komplizen werden. Das tragische Schicksal des alten Fischers stellt Lárus bisheriges Leben infrage.

Wie auch in »Am Tisch sitzt ein Soldat« wird die Frage »gehen oder bleiben?« thematisiert, indem uns Schmidt zeigt, dass das Leben im nördlichsten Zipfel Europas rau ist wie die Landschaft selbst, und Langweile den Alltag eintönig macht.

Nachdem ich nun meinen ganz persönlichen kleinen Fanmoment mit dem Autor auf der Frankfurter Buchmesse hatte, rangiert er in der Liste meiner Lieblingsautoren ganz weit oben. Wer noch nichts von ihm gelesen hat, sollte das schleunigst nachholen. Auch für dieses Buch gibt es eine große Empfehlung von mir und fünf Sterne mit Sternchen.

»Die Gräser und Steine haben Ohren und Mäuler. Das Wasser dagegen ist an unseren Geschichten nicht interessiert. Es ist nur hungrig. Es verschlingt uns, es behält uns für immer in seinem Schlund, und manchmal, wenn wir ungenießbar sind, wirft es uns zurück auf die Steine wie Abfall. Aber an unseren Geschichten ist es nicht interessiert. Nicht ist so erbarmungslos wie der Djúp.« S.299

Klappentext

Lárus, Aushilfe im Altenheim und Taugenichts, trifft auf Grímur, einen ehemaligen Fischer. Der eine hat das Leben noch vor sich, beim anderen geht es zu Ende. »Der Schlächter« wird Grímur genannt, man raunt sich zu, er soll einen Mord begangen haben. Und während Lárus seine Drogendealerei immer mehr aus der Hand gleitet, entwickelt sich eine unwahrscheinliche Freundschaft zwischen dem Alten und dem Jungen – die beide ihre Geheimnisse mit sich tragen.

Bibliografische Angaben

ISBN: 978-3-257-24666-7
Verlag: Diogenes Verlag
Erscheinungsjahr: 28. September 2022
Seiten: 336, Taschenbuch

Über den Autor

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane ›Tell‹ und ›Kalmann‹ waren Bestseller; mit ›Kalmann‹ erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. ›Tell‹ war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste und erhielt den Bündner Literaturpreis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

Weitere Werke

• Moosflüstern, Landverlag 2017
Kalmann, Diogenes 2020
• Tell, Diogenes 2022
Kalman und der schlafende Berg, Diogenes 2023
Am Tisch sitzt ein Soldat, Diogenes 2023

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Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen. Hans Derendinger

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